UNTER DRUCK

Auch Leistungssportler kennen Essstörungen und Depressionen. Lieber früher zum Arzt gehen als nie – das ist einer der Appelle der Ex-Schwimmerin und Psychotherapeutin Petra Dallmann.

Von Klaus D. Kullmann

Petra Dallmann eröffnet das Gespräch auf ungewöhnliche Art: Sie möchte wissen, wie viel Zeit für das Interview eingeplant ist. „Ich habe nämlich so etwas wie einen Notfall“, sagt sie. „Eine Sportlerin bat um schnelle Hilfe.“

Sagen Sie mir Ihr Zeitbudget, wir richten uns danach. Kommen solche Notfälle öfter vor?

Sagen wir so: Ich bin unkompliziert erreichbar. Mir liegt es sehr am Herzen, schnelle Hilfe anzubieten, ich habe auch ein Netzwerk von Therapeuten, die mich unterstützen. Der Sportler ist es gewöhnt, wenn er ein Problem hat und es auch angehen will, dass er zeitnah versorgt wird. Beim Orthopäden, beim Physiotherapeuten und eben beim Psychotherapeuten.

Als ehemalige Sportlerin hier am Olympiastützpunkt Heidelberg und Ärztin haben Sie sich auf die Arbeit mit Athletinnen und Athleten spezialisiert. Brauchen diese mehr Hilfe als andere Menschen?

Psychische Erkrankungen kommen bei Sportlern genauso häufig vor wie in der Normalbevölkerung. Das einzige Problem, das häufiger vorkommt, sind Essstörungen. Das kann man sich ja auch gut vorstellen. Wir haben viele Sportarten, in denen ein geringes Körpergewicht Vorteile haben kann, zum Beispiel Skispringen oder Sportgymnastik, aber auch viele Ausdauersportarten. Und wir haben Gewichtklassensportarten mit einem Essverhalten, das nicht immer gesundheitsförderlich ist. Ansonsten sind Athleten psychisch genau so gesund oder krank wie andere Menschen, aber sie tun sich schwerer, über psychische Probleme zu sprechen.

Weil sie stark sein wollen, weil Sportler und Sportlerinnen ungern Schwächen zeigen?

Ja, schon. Körperliche Probleme sind total akzeptiert. Aber zu sagen, ich habe eine Depression, das fällt Sportlern, denen gerne eine besondere mentale Stärke zugeschrieben wird, schwer. Leistung beim wichtigsten Wettkampf auf den Punkt genau abzurufen, ist das eine. Parallel dazu kann man trotzdem depressiv sein.

Warten Athleten zu lange damit, sich jemandem anzuvertrauen?

Seit wann wird denn offen über psychische Probleme im Sport gesprochen? Noch nicht sehr lange. Denken Sie mal an den letzten Sommer, an Naomi Osaka, oder an die Olympischen Spiele in Tokio, an Simone Biles. Biles war die erste Weltklasseathletin, die sich traute zu sagen, ich nehme am Wettkampf nicht teil, weil es mir psychisch nicht gut geht. Ja, manche warten zu lange, aber ich erlebe immer häufiger Sportler in meiner Sprechstunde, die sich schon zu einem frühen Zeitpunkt melden.

Mountainbiker Lukas Baum aus Neustadt sagte mir gerade, er habe sich lange gescheut, über seine Probleme zu reden, da psychische Leiden gesellschaftlich nicht anerkannt sind, auch belächelt werden.

Viele versuchen, sich lange allein durchzukämpfen. Das ist auch irgendwie nachvollziehbar, da Leistungssportler gewohnt sind, immer wieder über die eigenen Grenzen zu gehen. Und bei psychischen Beschwerden versucht man es oft selbst zu regeln. Ein großes Ziel der Sportpsychiatrie und Sportpsychotherapie ist es, Athleten zu sensibilisieren und zu ermuntern, sich früh zu melden. Wenn die Bizepssehne schmerzt, gehen sie ja auch zum Arzt und Physiotherapeuten und warten nicht, bis sie gerissen ist.

Können Naomi Osaka oder Simone Biles oder andere so etwas wie Vorbilder sein? Unbewusst Vorbilder sein?

Wenn eine Naomi Osaka sich outet oder wenn ein Ottmar Hitzfeld offen und bewusst sagt, ja, ich habe oder hatte psychische Probleme beziehungsweise eine psychische Erkrankung, mir wurde geholfen, dann hilft das unglaublich. Hitzfeld oder Timo Hildebrand haben sich bereit erklärt, auf unserer Seite www.athletes-in- mind.de ihre Geschichte zu erzählen, um anderen Mut zu machen.

Ihrer Erfahrung nach, was sind denn die Hauptgründe?

Wie schon angedeutet: Ich habe es in meiner Sprechstunde für Sportler fast ausschließlich mit zwei Störungsbildern zu tun, mit Essstörungen und mit Depressionen. Wir Psychotherapeuten und Psychiater sind dafür da, den Begriff Depression als Diagnose festzuzurren. Depressionen kann man richtig gut behandeln. Man kann dies ambulant, tagesklinisch oder stationär tun. Es gibt psychotherapeutische und medikamentöse Therapiemöglichkeiten, die man oft kombiniert.

Wir Journalisten legen Sportlerinnen und Sportlern gerne und oft das Wort Druck in den Mund. Stehen sie tatsächlich so unter Erfolgsdruck, dass sie im schlechten Falle psychisch krank wer- den können?

Es gibt alles. Ein eng getakteter Terminplan, Verletzungen, Veränderungen oder private Schicksale. Oft ist es gar nicht der äußere Erfolgsdruck, der die Belastung ausmacht, sondern der Druck, den man sich selbst macht. Die meisten sagen, ja klar wollen meine Familie, mein Trainer, mein Umfeld, dass ich erfolgreich bin, am allermeisten aber will ich es. Den größten Druck machen sie sich oft selbst.

Haben Sie tendenziell festgestellt, dass der Beratungsbedarf, zum Beispiel, weil wir seit zwei Jahren in einer Pandemie leben, größer geworden ist?

Meine Sprechstunde für Leistungssportler an der Uniklinik habe ich jetzt seit genau zehn Jahren. Von der Nachfrage her ist es gleich geblieben. Was ich feststelle: Essen und Ernährung sind in der Coronazeit bei vielen Thema geworden. Etwa, weil gewohnte gemeinsame Mahlzeiten, zum Beispiel in der Mensa oder Kantine, weggefallen sind, man hatte mehr Zeit, sich mit der Zubereitung der Mahlzeiten zu befassen und aktuell verschiedenste Ernährungstrends es schwierig machen zu wissen, wie die perfekte Ernährung aussieht. Man kann unendlich viel Zeit damit verbringen nachzudenken; hat man die richtige Menge gegessen, waren auch genug Proteine dabei, sollte man vegan essen...

Was ist leichter zu behandeln?

Das lässt sich nicht sagen, weil es Persönlichkeits- oder Umweltfaktoren gibt, die es nicht vergleichbar machen. Oder genetische Faktoren. Sie müssen sich das wie einen Kuchen aus diesen drei Ursachen vorstellen. Ich versuche herauszufinden, welche Anteile es an der Entstehung der Erkrankung gibt und diese zu behandeln.

Welche Leistungssportler kommen zu ihnen: die großen und schon erfolgreichen, oder die jungen Talente, die quasi noch vor der Karriere stehen?

Alle. Ich habe die Sprechstunde an der Uniklinik, die auch nicht kadergebundenen Athleten offen steht, und eben die hier am Olympiastützpunkt Heidelberg für die Kaderathleten. Seit zwei Jahren bin ich einen Tag in der Woche da. Das hat sich als absolut sinnvoll erwiesen, auch zur Entstigmatisierung. Da sind nebeneinander der Laufbahnberater, der Sportpsychologe, der Sportmediziner und eben ich. Allein dadurch wird signalisiert, es ist schon auch normal, dass man mal psychische Probleme hat.

Was unterscheidet die Sportpsychologie von der Sportpsychotherapie?

Sportpsychologie hat vermehrt seit zehn, 15 Jahren in Deutschland Einzug gehalten. Hier geht es um die Verbesserung und Stabilisierung von Leistung im Wettkampf und Training. Es geht aber auch um den Umgang mit Stress und Druck, dazu gehört auch, für Erholung zu sorgen. Auch psycho- soziale Themen kommen vor.

Haben Sie ein Beispiel für die Entstehung einer Depression?

Häufige Auslöser von Depressionen bei Sportlern sind zum Beispiel Verletzungen mit einem ganz langen Heilungsverlauf oder wiederkehrende Verletzungen. Das kann man nach- vollziehen. Es sind junge Menschen, die als Talente gefeiert werden, selbst Erwartungen an sich haben, dann lässt eine Verletzung Träume platzen, dann machen sie ein halbes Jahr Reha, aber es geht nicht voran, die Schmerzen gehen nicht weg, gleichzeitig feiert die Mannschaft einen Erfolg nach dem andern und man ist nicht dabei.

Und dann kommt Corona...

Ja, und dann kommt auch noch Corona. Alltagsstrukturen gehen verloren, Sozialkontakte gehen verloren. Plötzlich sitzt du mit Krücken allein in einer Stadt, in die du des Sports wegen gezogen bist. Da ist verständlich, dass es zu einer Krise kommen kann.

Nun sprachen Sie von Ihrer Homepage www.athletes-in-mind.de. Eine Seite von Athleten für Athleten. Wie intensiv wird sie genutzt?

Ja, das ist noch mal eine andere Geschichte. International ist das Thema psychische Gesundheit im Leistungssport auf dem Vormarsch, auch online findet man viele Informationen, zum Beispiel in den USA, in Australien oder auch über das IOC. In Deutschland gab es bisher wenig. Ich habe die Seite mit einer Kollegin in Berlin, Dr. Brit Wilsdorf, gegründet. Uns geht es auch darum, Hemmschwellen zu mindern. Die Seite kann auch helfen, in der Gesamt- bevölkerung zur Entstigmatisierung beizutragen.

Dieses Interview von Klaus D. Kullmann erschien am 17. April 2022 in der Rheinpfalz am Sonntag.

Erschienen am 17. April 2022
in Rheinpfalz am Sonntag

www.rheinpfalz.de