Dominik Nerz: „Ich musste am Gewicht schrauben“

Mit 27 ist Radprofi Dominik Nerz körperlich und mental am Ende. Der zweimalige Tour-de-France-Fahrer hat sich auf 55 Kilo herunter gehungert. Er ist in die Magersucht abgerutscht, begleitet von depressiven Episoden. Dann sagt ihm ein Arzt: „Wenn Sie noch einen Monat so weitermachen, sind Sie tot.“

Es ist ein sonniger Tag im September 2016. Mit über elf Minuten Rückstand auf den Sieger fährt Radprofi Dominik Nerz im italienischen Kurort Montecatini Terme über die Ziellinie. Aber Zahlen interessieren ihn jetzt nicht mehr. Für ihn zählt nur der Entschluss, seine Karriere als Radprofi zu beenden – mit 27, im besten Radsportalter.

In den Jahren zuvor hat er seinen Körper malträtiert, er ist oft über die Grenze des Zumutbaren hinaus gegangen. Nerz hat schlimme Stürze erlebt und ist in die Magersucht abgerutscht. Der Druck, die eigenen Erwartungen und die Ansprüche anderer zu erfüllen, sowie der Ehrgeiz, zu den weltbesten Radprofis gehören zu wollen, haben ihn an den Rand des Todes gebracht. Seine Psyche hat rebelliert.

2021

Dieser Artikel enthält Auszüge aus dem Buch „Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern“ von SWR-Sportredakteur Johannes Seemüller. Darin erzählen elf Spitzensportler von ihrem Umgang mit Rückschlägen und Krisen.

Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern 
Johannes Seemüller
Springer Verlag, Heidelberg
2021, 238 Seiten, 64 Abbildungen in Farbe
Softcover € 19,99 (D)
ISBN 978-3-662-62551-4
Auch als eBook verfügbar

„Ich wollte nicht mehr krank sein. Ich wollte mein normales Leben zurückhaben.“ Nerz begibt sich für sechs Wochen zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik. „Man musste mich dran erinnern, wer ich eigentlich wirklich war.“

—  Dominik Nerz

Sieben Jahre zuvor unterschreibt Nerz, der junge Kerl aus dem Allgäu, seinen ersten Profivertrag beim deutschen Team Milram. Zwei Jahre später ist er der erste deutsche Fahrer in der Geschichte des italienischen Rennstalls Liquigas. 19 der 29 Profis kommen aus Italien. Der 21-Jährige tut sich schwer, in der Mannschaft Fuß zu fassen. Er versteht die Sprache nicht, ist ohnehin eher ein introvertierter Typ - und dann ist da noch Dottore Roberto Corsetti.

Der Mannschaftsarzt zelebriert mit äußerster Vorliebe eine fragwürdige Tortur. Corsetti lässt jeden Fahrer regelmäßig antreten, auch Dominik Nerz. Zuerst muss der Profi auf die Waage, damit die Grundsubstanz festgestellt werden kann. Dann will der Arzt feststellen: Was sind Muskeln? Was ist Fettgewebe? Er will den Körperfettanteil ermitteln. Wenn er die Fettzange ansetzt, schnalzt er mit der Zunge. Bis zu zwölf Mal kneift Corsetti mit dem Werkzeug die Hautfalten an Armen, Oberschenkeln, Brust und Bauch zusammen und schreibt die Werte auf.

Nerz wiegt zu diesem Zeitpunkt etwa 70 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,80 Meter. Bisher hat er über Essen und über sein Gewicht nie nachgedacht. Es hat ihn nicht interessiert. „Ich habe einfach das gegessen, worauf ich Lust hatte. Damit bin ich auch sehr gut gefahren.“ Aber jetzt, im Trainingslager seines neuen Teams, muss er sich jeden Tag wiegen. Man gibt ihm zu verstehen, dass man mit seinem Körper nicht zufrieden ist. Es wird angedeutet, etwas weniger Gewicht wäre gut.

Hungrig auf Erfolge

Plötzlich sind die Themen Gewicht und Ernährung in sein Gehirn eingepflanzt. Nerz muss feststellen, dass die Italiener sehr eigene Ernährungsmuster haben. „Es gab Kollegen, die sich über eine Drei-Wochen-Rundfahrt ausschließlich von Weißbrot und Nudeln mit Olivenöl und Parmesan ernährt haben. Es gab keinen Salat, nichts. Dazu haben sie Wasser getrunken.“

Nerz orientiert sich an den namhaften Fahrern im Team wie Ivan Basso oder Vincenzo Nibali. Er schaut, wie sie sich ernähren. „Also habe ich mehr und mehr weggelassen beim Essen.“ Hätte er nur auf sich selbst gehört: Was tut mir gut? Was nicht? Aber das macht er nicht. „Das war ein
Fehler,“ weiß Nerz im Nachhinein. „Ich hätte mir sagen sollen: Lass die mal reden. Solange ich meine Leistung bringe, mache ich mein Ding.“

Nach seiner ersten Tour de France-Teilnahme 2012 landet Nerz beim Schweizer Team BMC und ist hungrig auf weitere Erfolge. „Ich lebte schon nur für den Radsport und trainierte gut,“ erinnert er. „Also musste ich am Gewicht schrauben.“ Er studiert die Top 10-Fahrer Froome, Valverde, Contador oder Wiggins und sieht, dass sie „nur Haut und Knochen“ sind. „Wenn die so schnell fahren können, dann muss ich das auch,“ sagt er sich.

Ein Ernährungswissenschaftler im Team erstellt Trainingspläne für den Deutschen, weiß aber nicht, dass der inzwischen ein erhebliches Problem mit seiner Ernährung hat. „Wenn er mir 200 Gramm Nudeln aufgeschrieben hat,“ erzählt Nerz, „habe ich nur 150 Gramm gegessen. Ich dachte, dann nehme ich schneller ab.“ Der Musterschüler versucht mit solchen kleinen Tricks, die Dinge immer weiter zu optimieren.

Einem der Teamärzte, fällt auf, dass Nerz von Rennen zu Rennen müder wird. „Bist du dir sicher, was du da machst, Dominik?“, fragt er. Er bittet Nerz, die Gewichtsreduktion einzustellen. Aber Nerz will keine andere Meinung zu diesem Thema hören. Viel lieber saugt er die teils bewundernden Aussagen von Teamkollegen auf. Sie merken, dass er immer weniger wiegt und klopfen ihm für seinen Fleiß und seine Disziplin auf die Schulter. „Das wollte ich hören. Dieses Lob spornte mich an, so weiter zu machen.“

Verzerrte Wahrnehmung

Beim Blick in den Spiegel sieht Nerz einen Mann „mit zu vielen kleinen Pölsterchen“. Er kennt mittlerweile exakt den Verlauf seiner Venen am Körper. „Ich habe ausgesehen wie eine Europa-Landkarte.“ Wenn er eine Vene mal nicht entdeckt, denkt er gleich, er habe zugenommen - und isst weniger. Seine Körperwahrnehmung hat sich extrem verzerrt.

Ende 2014 wechselt Nerz als Kapitän zum deutschen Rennstall Bora-Argon18. Er bucht auf eigene Kosten ein dreiwöchiges Trainingslager auf Mallorca. Täglich trainiert er zwischen vier und acht Stunden, „wenn’s ging, ohne Essen.“ Nerz will sich leichter hungern. Nur morgens rührt er sich manchmal ein paar Haferflocken mit heißem Wasser an. Doch auch das lässt er bald sein.
Nach dem stundenlangen Training auf der Straße geht er oft noch in den Fitnessraum des Hotels und setzt sich ans Rudergerät. Abends isst er lediglich ein kleines Stück Fleisch und etwas Salat. Als er nach Deutschland zurückfliegt, wiegt er nur noch 62 Kilogramm. Das sind sechs Kilogramm weniger als sonst im Winter.

Sein Körper ist ausgezerrt und kaum noch belastbar. Nerz hat keine Kraft und Energie mehr. „Es gab Phasen, in denen ich verzweifelt war,“ sagt er. Nerz wird zunehmend depressiv. „Ich war in einem Vakuum-Zustand. Ich konnte mich über nichts mehr freuen. Ich konnte auch über nichts mehr traurig sein. Da war eine komplette Leere.“

Nerz spricht ruhig und mit viel Bedacht über diese Zeit. Als wir über seine Depressionen sprechen, fällt auch der Name Robert Enke. Der ehemalige deutsche Fußball-Nationaltorwart war an schweren Depressionen erkrankt und hatte sich 2009 das Leben genommen. Es ist bekannt, dass depressive Menschen häufig Suizidgedanken haben. Ich bin mir unsicher, ob meine Frage zu privat oder gar zu intim ist. Trotzdem frage ich Nerz, ob er auch Suizidgedanken hatte.

Depressionen und Magersucht

„Ja,“ antwortet er. „Es gab Gedankenblitze. Aber ich bin jetzt nicht in einen Baumarkt gefahren und habe mir einen Strick ausgesucht.“ Er habe sich manchmal die Sinnfrage gestellt: Was bringt das alles noch? „Zum Glück war es nicht so schlimm, dass ich Gefahr gelaufen wäre, es wirklich in die Tat umzusetzen. Es war nur eine kurze Zeitspanne, in der ich so verzweifelt war.“ Gott sei Dank ist da der Radsport. Das nächste Rennen wartet. „Da sind die Gedanken wieder verflogen.“

Mittlerweile wiegt Nerz nur noch 58 Kilogramm. Zum ersten Mal fällt der Begriff Magersucht. Nerz bestätigt, dass er damals komplett die Relation verloren habe. Er habe beim Essen nicht mehr gewusst, was viel und was wenig ist. In Leipzig wird er von einem Arzt und Psychologen drei Tage lang untersucht. Die Diagnose: Magersucht. „Wenn Sie noch einen Monat so weitermachen“, prophezeit er, „dann sind Sie tot.“ Der Arzt rät Nerz zu einem Klinikaufenthalt. Der Radprofi lehnt ab.

Trotzdem arbeitet Nerz kurzzeitig mit einem Therapeuten und einem Ernährungsberater zusammen. Er zwingt sich, etwas Gewicht zuzulegen. Allerdings empfindet er jedes zusätzliche Gramm als Versagen. Manchmal ist der Hunger so groß, dass ihn Fressattacken überkommen. Dabei überfordert er seinen Magen und erbricht alles sofort.

Auch 2016 erlebt Nerz regelmäßig Leistungseinbrüche. Sein gesamtes System ist mittlerweile schwer angeschlagen. In der Berliner Charité wird der Radprofi von Professor Bernd Wolfahrt, dem leitenden Olympiaarzt des Deutschen Olympischen Sportbunds, komplett durchgecheckt.

Indirekt rät der Arzt Nerz, mit dem Radsport aufzuhören. „Es ist hart, wenn dir in einem Gespräch von nicht mal einer Stunde jemand erklärt, dass dein komplettes Leben, das du dir aufgebaut hast, ein Ende gefunden hat.“ Am 20. September 2016 steigt Nerz in Montecatini Terme zum letzten Mal als Radprofi vom Sattel. Seine Karriere ist vorbei.

„Ich spüre mich wieder“

Mit der gleichen Konsequenz, die er im Radsport an den Tag gelegt hat, geht er auch seinen Genesungsprozess an. „Ich wollte nicht mehr krank sein. Ich wollte mein normales Leben zurückhaben.“ Nerz begibt sich für sechs Wochen zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik. „Man musste mich dran erinnern, wer ich eigentlich wirklich war.“

Nach einem langen, beschwerlichen Weg hat Dominik Nerz sein Leben mittlerweile wieder im Griff. Körperlich und mental fühlt er sich fit. Er sei dankbar für jede einzelne Erfahrung, sagt er, auch wenn sie noch so schlecht gewesen sei. „Ich lebe nicht mehr in einer Traumwelt, sondern im Hier und Jetzt. Ich bin froh, dass ich mit zwei blauen Augen da rausgekommen bin.“

Im Sommer 2020 hat er gemeinsam mit seiner Mutter auf der österreichischen Seite des Bodensees das Restaurant „Fein7Stuonobach“ eröffnet. Nerz steht jeden Morgen motiviert und fröhlich auf. Er hat Lust auf den Tag und sprüht wieder vor Energie.

Ernährungspläne sind für ihn kein Thema mehr. Wenn er abends Lust auf einen 500 Gramm-Eisbecher habe, dann esse er den eben und denke nicht mehr darüber nach, wie er die Kalorien wieder runterkriege. „Ich spüre mich wieder. Alles ist wieder da,“ strahlt er.

Geholfen hat ihm, dass er mittlerweile als Koch arbeitet. Es klingt wie eine Ironie des Schicksals. Ausgerechnet der ehemals magersüchtige Radprofi ist jetzt in seinem eigenen Restaurant der Küchenchef. Bei seiner Arbeit muss er viel essen und probieren. „Der Eintritt in die Küche war für mich eine Heilung.“

Quellenangaben

Wir bedanken uns herzlich beim Autor Johannes Seemüller, beim Springer Verlag, Heidelberg und bei den Fotografen.

Dieser Artikel enthält Auszüge aus dem Buch „Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern“ von SWR-Sportredakteur Johannes Seemüller. Darin erzählen elf Spitzensportler von ihrem Umgang mit Rückschlägen und Krisen.

Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern 
Johannes Seemüller
Springer Verlag, Heidelberg
2021, 238 S., 64 Abb. in Farbe
Softcover € 19,99 (D)
ISBN 978-3-662-62551-4
Auch als eBook verfügbar