Man ist auf einer kleinen Reise zu sich selbst.“

Catia Gubelmann (24) ist 400-Meter-Läuferin. Erste Erfolge sammelte die Schweizerin im Siebenkampf, seit 2023 fokussiert sie sich auf die 400 Meter. Ihre Bestzeit ist 52,51 s; bei den U23-Europameisterschaften gewann sie mit der Schweizer 4x400m-Staffel die Silbermedaille. Catia Gubelmann lebt in Zürich und studiert Betriebsökonomie und Sportmanagement. 2022 wurde bei Catia Gubelmann eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Seitdem nimmt sie Ritalin. Für Wettkämpfe brauchen betroffene Sportler:innen für die Ritalin-Einnahme eine Ausnahmegenehmigung.

1. Catia, du hast einmal gesagt, dass du dich schon als Kind „komplett anders als
Gleichaltrige“ gefühlt hast? Warum?


Ich hatte zum Beispiel in meiner Kindheit nie eine beste Freundin. Ich hatte Freunde,
viele Freunde, aber es war nie so eng. Ich hatte Mühe, enge Freundschaften einzugehen oder
zu halten. Und da habe ich gemerkt, dass andere Personen ein bisschen anders funktionieren.

2. Hattest du auch schulische Probleme?

Ich hatte Mühe, Lesen zu lernen. Ich habe aber Strategien entwickelt wie ich das Lesen lernen umgehen konnte. Ich habe mir, als wir in der Grundschule irgendein Buch gelesen haben, das Hörbuch in der Bibliothek ausgeliehen, und dann habe ich das einfach auswendig gelernt. Als ich dann an der Reihe war, vorzulesen, konnte ich natürlich vorlesen, weil ich das Buch ja auswendig konnte. Es ist dann aufgeflogen, weil ich weitergelesen, aber nicht umgeblättert habe.

 
Im Nachhinein ist mir schon klar, wieso ich Mühe hatte, zu lesen. Für mich war es schwierig, mich zu konzentrieren. Und als ich schließlich lesen konnte, habe ich ein, zwei Sätze gelesen, dann haben meine Gedanken diese Sätze weitergedacht. Ich war plötzlich in meinen eigenen Gedanken, musste dann aber wieder zurückkommen und wieder diese Sätze lesen, weil ich vergessen habe, was ich gelesen hatte. Im Gymnasium hat mich das mega gestresst, weil ich viel länger gebraucht habe als alle anderen, um gewisse Aufgaben zu erledigen. In Mathe hingegen war ich immer relativ gut, und wenn ich es mal begriffen hatte, dann war ich einer der Schnellsten.

3. Wie lief es in deiner Kindheit und Jugend im Sport?

Ich denke, Sport war schon immer wie ein Ventil für mich. Und beim Sport habe ich mich immer wohl gefühlt, egal in welchem Alter. Da war ich einfach zu Hause. Ich hatte die Sicherheit, dass ich das kann. Im Rückblick war das schon immer eine Art Therapie fürs ADHS.

4. Aber es gab auch Probleme?

Ich hatte meine Impulse nicht wirklich unter Kontrolle, vor allem wenn ich emotional geworden bin. Ich habe vor der Diagnose noch Siebenkampf gemacht, das sind ja wirklich hochtechnische Disziplinen. Und wenn etwas nicht beim ersten Mal funktioniert hat, war ich
schnell frustriert. Ich habe dann auch mal eine Hürde umgestoßen oder einen Ball durch die Halle geworfen. Ich wurde einfach sehr schnell wütend - auf Gegenstände oder auf mich selbst. Ich hatte einen Kontrollverlust durch die Impulsivität. 

Außerdem hatte ich Probleme mit der Konzentration. Ich hatte zum Beispiel Mühe, mich beim Kugelstoßen im Ring auf das zu konzentrieren, was ich jetzt tun musste. Mein Coach hat mir zwar gesagt, beim nächsten Stoß konzentriere dich auf den Anlauf, die Beine. Und ich habe mir dann immer gesagt: „Auf die Beine, auf die Beine.“ Aber dann kamen einfach irgendwelche Gedanken dazwischen, zum Beispiel „Was habe ich zu Mittag gegessen?“ Und dann konnte ich nicht gut stoßen.

Natürlich war auch die ganze Gruppendynamik schwierig für mich. Das war ein bisschen wie in der Schule. Enge Freundschaften hatte ich nicht. Ich wurde zwar als mega liebe, nette Person wahrgenommen, aber ich war halt speziell und hatte meine Ausraster. Die meisten wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten, und darum wollten sie lieber mit jemand anderem Partnerübungen machen, zum Beispiel. Das war nicht böse gemeint, aber für mich war das natürlich ganz, ganz schlimm. So hatte ich nie wirklich ganz enge Freundschaften.

5. Und wie kam es zur Diagnose?

Drei Monate vor der Matura (dt. Abitur) hatte ich einen Zusammenbruch und unternahm einen Suizidversuch. Ich wollte nicht mehr leben. Ich war am Ende. Ich bin daraufhin in eine Psychiatrie gekommen. Dieser Aufenthalt war das Allerschlimmste, was ich je erlebt habe, denn einen Bewegungsmenschen darf man nicht einsperren. In der Psychiatrie hat man mir ein Buch hingeklatscht, auf dem ganz fett „Borderline“ draufstand. Ich sollte es lesen und sagen, ob ich mich damit identifizieren könne. Das war ganz schlimm. Mein Ziel war,
möglichst schnell da rauszukommen.

6. Das heißt, du bist mit einer Borderline-Diagnose aus der Psychiatrie entlassen worden?

Ja. Aber mein Coach Manuel Evangelista wollte das nicht wahrhaben und hat sich eingelesen. Er hat selbst zwei Töchter, die eine hat ADHS, die andere ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom). Und er hat Ähnlichkeiten in meinem Verhalten gesehen. Er hat vorgeschlagen, dass ich das nochmal abklären solle. Er ist sogar mitgekommen zur Psychologin, die den Test gemacht hat. Erst dann wurde die richtige Diagnose gestellt.

7. War es eine Erleichterung für dich, nach dem was du erlebt hast?

Es war für mich eine mega Erleichterung. Erstens weil diese Borderline-Diagnose vom Tisch war, und zweitens, weil ich natürlich mein ganzes Leben noch mal aufgerollt habe und erkannt habe, warum ich so oder so reagiert habe. Es war einfach nur ein Aha-Moment, und
ich bin so dankbar. Diese Diagnose hat mich extrem erleichtert.

8. Was hat sich daraufhin dann geändert? 

Ich konnte bei der Psychologin, bei der ich auch die Abklärung gemacht habe, eine Verhaltenstherapie beginnen. Ich konnte aufrollen, okay, wo habe ich Schwächen, was fällt mir schwer? Ich hatte natürlich schon unbewusst unzählige Strategien entwickelt wie zum Beispiel mit dem Lesen lernen, ohne zu wissen, dass ich ADHS habe. Wir haben geschaut, ob diese Strategien zielführend sind und noch weitere entwickelt. Und ich habe begonnen, Ritalin zu nehmen. Das war ganz crazy.

9. Was meinst du genau?

Das kann ich mit einem Bild erklären: Jeder war schon mal in einer überfüllten Bahnhofshalle. In einer vergleichbaren Situation stand ich immer beim Hochsprung, ohne Ritalin. Es war als würden mir Menschen durch den Anlauf laufen. Ich konnte mich nicht konzentrieren und hatte auch physisch keine Chance, einen guten Anlauf zu machen. Mit Ritalin ist es die gleiche Ausgangslage: Ich bin immer noch die gleiche Person, ich bin immer noch vor dem Anlauf zum Hochsprung, aber ich bin alleine. Und damit hatte ich erstmals die Chance, mein Potenzial auszuschöpfen, weil ich mich konzentrieren und einen geraden Anlauf machen konnte.

10. Ein starkes Bild.

Ich liebe dieses Bild. Ich weiß nicht mehr, wieso mir genau dieses Bild in den Sinn gekommen ist. ADHS ist ein Handicap, aber es ist unsichtbar. Wenn jemand ein amputiertes Bein hat, dann sagt man auch nicht zu ihm: „Kannst du bitte so schnell rennen wie alle anderen.“ Aber mir hat man immer gesagt: „Kannst du bitte so schnell rennen oder denken oder lesen wie alle anderen, du hast ja nichts.“

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