Timo Hildebrand: „Da ging nichts mehr“

Timo Hildebrands Karriere glich einer Achterbahnfahrt. Vom Meistertitel bis zur Arbeitslosigkeit war alles dabei. Der ehemalige Torwart des VfB Stuttgart erlebte einige Krisen und Rückschläge: die Alkoholerkrankung seines Vaters, windige Berater, autoritäre Trainer und egoistische Teamkollegen. 

Es klingt nach Kleinfamilien-Idylle. Timo Hildebrand wächst mit den Eltern und seinem älteren Bruder im südhessischen Hofheim auf. Stundenlang jagt er täglich auf dem Bolzplatz dem Ball hinterher, auch der Vater und Bruder Volker kicken beim FV Hofheim. Doch der Schein trügt. Der Vater ist alkoholkrank. „Es gab immer viel Streit in der Familie“, erzählt Hildebrand. Mal zieht der Vater von zuhause aus, dann ist er plötzlich wieder da. „Ich bin dem Streit meiner Eltern aus dem Weg gegangen und habe mich oft auf mein Zimmer zurückgezogen.“

Gut, dass er den Fußball als Ausgleich hat. „Vielleicht war es auch eine Art Flucht“, sagt er nachdenklich. Auf jeden Fall ist die Kickerei besser als die lautstarken verbalen Auseinandersetzungen zuhause. „Die Truppe war wie eine Ersatzfamilie, wie meine Heimat.“

2021

Dieser Artikel enthält Auszüge aus dem Buch „Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern“ von SWR-Sportredakteur Johannes Seemüller. Darin erzählen elf Spitzensportler von ihrem Umgang mit Rückschlägen und Krisen.

Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern 
Johannes Seemüller
Springer Verlag, Heidelberg
2021, 238 Seiten, 64 Abbildungen in Farbe
Softcover € 19,99 (D)
ISBN 978-3-662-62551-4
Auch als eBook verfügbar

Er erinnert sich daran, dass seine Mutter früher zum Psychologen gegangen ist. Einmal hat er sie gefragt: „Wie kannst du einem Wildfremden deine Probleme erzählen?“ In seiner Zeit beim VfB Stuttgart denkt er anders darüber. Er nimmt psychologische Unterstützung in Anspruch. „Mir hat das geholfen. Heute würde ich sogar in der Mannschaft darüber reden, wenn ich mit einem Psychologen zusammenarbeiten würde.“ 

—  Timo Hildebrand

Der Fußball als Halt

Beim Fußball findet Hildebrand Halt und Anerkennung. Das, was ihm die Familie damals nicht im nötigen Maß bieten kann. Mit 16 zieht er ins Fußballinternat des VfB Stuttgart. Es ist ein großer Schritt für einen innerlich instabilen Jugendlichen. Aber Hildebrand beißt sich durch. Er wird Profi. Mit 20 bestreitet er unter sein erstes Bundesliga-Spiel.

2001 kommt Felix Magath als neuer Coach. Ausgerechnet Magath. Er hat den Ruf des Feuerwehrmanns und Schleifers. Dem wird er mit seiner autoritären Art auch beim VfB Stuttgart gerecht. „Alle hatten Angst, als er kam“, erinnert sich Hildebrand. „Im System Magath war viel auf Angst aufgebaut. Unter ihm musst du funktionieren, immer Gas geben und bis ans Limit gehen. Im Training hat keiner links und recht geschaut oder den Ball verloren gegeben.“

Magath macht sein Team zur fittesten Truppe der Liga, der VfB qualifiziert sich 2003 und 2004 für die Champions League. Doch der Preis ist hoch. Der Trainer-Feldwebel hinterlässt ein „ausgelutschtes“ Team mit körperlichen und mentalen Blessuren. „Bei ihm hatten wir Dauerstress“, berichtet der Torwart. „Solange du funktioniert hast, hat er dich in Ruhe gelassen. Aber sobald du mal daneben warst, hat er dich zu sich zitiert. Wer angeschlagen oder leicht verletzt war, musste zu ihm ins Büro. Den Rat der Ärzte hat er beiseite geschoben. Magath hat selbst entschieden, ob ein Spieler trainieren kann oder nicht. Kritik an ihm war nicht angesagt. Es hat sich auch keiner getraut. Zumindest keiner der jungen Spieler.“ Hildebrand schüttelt den Kopf. „Ein solcher Umgang mit Spielern ist kaum noch vorstellbar. Ich wüsste nicht, wie heutzutage eine Mannschaft auf einen solchen Trainer reagieren würde.“ 

Timo Hildebrand (VfB Stuttgart) mit der Meisterschale 2007 | © Foto: Privat

Schwäche zeigen geht nicht

Der immense Druck treibt Hildebrand zu Höchstleistungen. 2003/2004 bleibt er 884 Minuten, also fast zehn Spiele, ohne Gegentor. Ein Rekord, der bis heute Bestand hat. Trotzdem ist er mental nicht immer stabil. Als Hildebrand Probleme in seiner Beziehung hat, fühlt er sich ausgebrannt. Auf dem Spielfeld ist er nur körperlich anwesend. „Ich weiß nur noch, dass wir damals in Wolfsburg 1:0 gewonnen haben. Sonst kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich stand völlig neben mir. Verrückt, dass ich da überhaupt auf dem Platz stand.“

Nach außen lässt er sich nichts anmerken. Schwäche zeigen geht nicht im Leistungssport. „Fußball ist ein Männerding. Wir Männer sprechen nicht gern über Gefühle oder psychologische Themen.“ Er erinnert sich daran, dass seine Mutter früher zum Psychologen gegangen ist. Einmal hat er sie gefragt: „Wie kannst du einem Wildfremden deine Probleme erzählen?“ In seiner Zeit beim VfB Stuttgart denkt er anders darüber. Er nimmt psychologische Unterstützung in Anspruch. „Mir hat das geholfen. Heute würde ich sogar in der Mannschaft darüber reden, wenn ich mit einem Psychologen zusammenarbeiten würde.“

Beim VfB Stuttgart entwickelt sich Hildebrand zur Führungspersönlichkeit. Bei Vertragsverhandlungen vertraut er Dusan Bukovac, einem knallharten Spielervermittler. Der Serbe lässt seinen Klienten aber immer wieder im Regen stehen. Plötzlich soll der Torwart mit den VfB-Bossen alleine verhandeln - und ist völlig überfordert. „Danach habe ich zwei Wochen brutal schlecht geschlafen und auch ziemlich abgenommen. Bukovac hatte mich überhaupt nicht informiert, dass an dem Tag die Deadline war. In einer solchen Situation als 25-Jähriger allein da zu sitzen, war eine Katastrophe.“

„Ich konnte nicht für mich eintreten“

Trotzdem hat Hildebrand nicht die Kraft, sich von seinem Berater zu trennen. „Ich konnte nicht selbst für mich eintreten. Das hatte ich nie gelernt. Ich denke, das rührt aus meiner Kindheit. Mir fehlten die väterliche Energie und Stärke. Mit meinem Vater war keine Kommunikation möglich. Ich konnte ihn nicht um Rat fragen.“

Nach dem Meistertitel 2007 verlässt Hildebrand Stuttgart Richtung Valencia. Dort behandelt ihn Torwart-Kollege Santiago Canizares wie einen Eindringling in sein hoheitliches Revier. Es beginnt ein Machtkampf, der viel Energie raubt. Als Hildebrand sich kurzzeitig durchsetzt und als Nummer Eins den spanischen Pokal gewinnt, scheint alles gut zu werden. Doch kurz darauf kommt der Schock. Der Keeper wird von Bundestrainer Joachim Löw nicht für die EM 2008 nominiert.

„Das war ein richtig heftiger Schlag. Ich war traurig und leer.“ Hildebrand ist einige Tage nicht mehr in der Lage, Fußball zu spielen. Er schwänzt ein Ligaspiel und ist beim Trainer untendurch. Seine Karriere ist mächtig ins Stocken geraten. Trotzdem meint er rückblickend: „Viele sagen, die Zeit in Valencia hätte mir gutgetan. Ich wirkte früher arrogant auf viele Menschen. Aber das war eher ein Schutz. Dieser steile Aufstieg mit den vielen Millionen Euro Gehalt macht was mit jungen Fußballern. Du denkst, dir gehört die Welt. In Valencia habe ich Demut gelernt.“

Arbeitslos - ein schmerzhafter Absturz

Vier Jahre später ist Hildebrand an einem Tiefpunkt. Er ist arbeitslos. Keiner will ihn mehr haben. Ein schmerzhafter Absturz, der am Selbstwert nagt. Er hält sich mit einem befreundeten Torwarttrainer fit. Allein, ohne Mannschaftskollegen. An manchen Tagen hat er keine Lust mehr, auf den Platz zu gehen. „Ich war mental so fertig, dass ich nicht mehr trainieren konnte. Da ging nichts mehr.“

Doch es kommen wieder bessere Tage. Bei Schalke 04 darf er noch mal in der Champions League spielen, und bei Eintracht Frankfurt beendet er im März 2016 nach insgesamt 301 Bundesliga-Spielen seine Karriere.

In ein Loch ist Hildebrand nach seiner sportlichen Laufbahn nicht gefallen. Heute arbeitet er für eine Kommunikationsagentur, veranstaltet Yoga-Events und engagiert sich bei einer zivilen Hilfsorganisation. Im Sommer hat er mit zwei Freunden ein veganes Restaurant eröffnet.

Viel Zeit verbringt er mit seinem Sohn Neo. Wie wertvoll diese gemeinsamen Stunden sind, weiß Hildebrand nur zu gut. Er hat in seiner eigenen Kindheit unter der Krankheit und Abwesenheit seines inzwischen verstorbenen Vaters gelitten. „Das will ich Neo ersparen. Ich möchte ein guter Vater sein.“ 

Quellenangaben

Wir bedanken uns herzlich beim Autor Johannes Seemüller, beim Springer Verlag, Heidelberg und bei den Fotografen.

Dieser Artikel enthält Auszüge aus dem Buch „Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern“ von SWR-Sportredakteur Johannes Seemüller. Darin erzählen elf Spitzensportler von ihrem Umgang mit Rückschlägen und Krisen.

Am Limit - Wie Sportstars Krisen meistern 
Johannes Seemüller
Springer Verlag, Heidelberg
2021, 238 S., 64 Abb. in Farbe
Softcover € 19,99 (D)
ISBN 978-3-662-62551-4
Auch als eBook verfügbar